Gepäck aus Forest 

Text von Cornelia Genschow 

erschien zur Ausstellung „Gepäck aus Forest" im Kurfürstlichen Gärtnerhaus Bonn, 2017

 

„Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht.“

Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832), Gespräche. Gesellschaft bei Goethe, 24. April 1819 

 

Es ist das Erkennen im anderen, das Wiedererkennen, das Vergewissern ins Herz geschlossener Gewohnheiten, welches mein persönliches Interesse an den Werken von anderen Künstlerinnen und Künstlern weckt. Aber nicht allein dies lässt meine Neugier erwachen. Das Erkennen muss gepaart sein mit einem Rätsel, einer Irritation, einer reizenden Fremdheit. Ich gestehe freimütig, dass ich diese Kunst selten finde. Sei es durch eine sich leise und stetig einschleichende professionelle Deformation, Routine oder durch ein Ermüden aufgrund von überbordender Reizüberflutung in einer rastlosen Welt der lauten Bilder. 

 

Obwohl zunächst nur am Bildschirm sichtbar übten Darja Eßers poetisch-zarten Blätter den eingangs beschriebenen Reiz sofort auf mich aus. Ihr Wesen schien selbst am entstellendsten aller Bildträger - dem Computerbildschirm - hindurch. Um so neugieriger war ich die Werke im Original zu sehen was dann bei einem Besuch in meiner Galerie Raum für Kunst und Natur in Bonn geschah. Der virtuelle Eindruck trog nicht. Was ich zu sehen bekam waren fesselnd - bezaubernde Papierarbeiten und Objekte von poetischer Zartheit.

 

Darja Eßers Zeichnungen und Aquarelle sind auf und mit Papier gearbeitet. Die Qualitäten von verschiedenen Papieren sind einzigartig. Kein anderer Bildträger zeichnet sich durch eine solche Feinheit und Stärke zugleich aus. Es gibt unzählige Grammaturen, Oberflächen und Leimungen, Saugfähigkeiten und nicht zuletzt Papier-Farben. Die Farbe Weiß hat in dem Medium Papier eines ihrer größten Spielfelder. 

 

Hier nun kommt ein ganz spezielles Papier zum Einsatz. Es handelt sich um ein von der Künstlerin selbst hergestelltes Papier aus Maulbeerfasern. Es lässt sich erahnen welche Experimentierlust und Ausdauer hinter dieser Wahl stehen. Die Fasern des hier verwendeten, teils eingefärbten transparenten Japanpapiers liegen fast schwebend über feinen Tusche-Zeichnungen und Aquarellen und wirken als eigenständige zeichnerische Spur in den Bildraum, wie die Künstlerin es selbst formuliert. 

 

Immer wieder finden sich in Eßers Zeichnungen schattenrissartige Pflanzenstrukturen, teils überlagert von den Fasern des transparenten Kozigami. Natur und die ihr innewohnenden Vernetzungen, seien es Blattadern oder Astgewirr, finden Analogien in den wässrigen Verläufen der farbigen Tuschezeichnungen. Oft offenbart erst der zweite Blick um was genau es sich handelt. Wasser, Flüsse und Netze durchdringen die Bildmotive konsequent. Alle diese kunstvoll und experimentell geschaffenen Vernetzungen werden immer gehalten oder getragen von einer äußeren Form, von einem Gefäß. Keines der erwähnten Netzwerke wuchert oder fließt über den Bildrand. Die Gefäße sind meist menschenbezogen, oft Köpfe oder Torsi, Organ-ähnliche Formen oder auch Schalen und Gefäße. Kleider und Verhüllungen definieren den menschlichen Umraum. Flügelformationen erscheinen sowohl zweidimensional in Zeichnungen als auch dreidimensional in autarken Wandobjekten. Fast textile Anmutung kreieren die transparenten Papierfaltungen. Lichteinfall und Materialität definieren hier die Form. Eine gänzlich eigene Poetik kommt zur Erscheinung. Jede Zeichnung erzählt eine Geschichte, erlebt oder gefühlt. Assoziationen beim Arbeitsprozess führen zum nächsten Motiv - inszenierte Fotographien und Skizzenbücher bilden dafür einen Ideenpool. Erinnerungen an Kindheit, an Träume und Traumata werden wach, wobei keine dieser Welten auserzählt wird. Es bleibt Raum für eigenes Entfalten, für individuelles Abenteuer.

 

„Die Schönheit des Universums könnte man an jeder Seele erkennen, wenn man alle ihre verborgenen Falten entfalten könnte, die sich jedoch erst merklich mit der Zeit entwirren.“

Gottfried Willhelm Leibnitz (1646 - 1716), Vernunftsprinzipien der Natur und der Gnade, Paragraph 13